So, 22.40 Uhr, SF 1: Giacobbo/Müller

Der lange Weg zur Pointe

Willi Näf liest das Wort “Halbopposition” auf dem Onlineportal von “20 Minuten” und denkt: Bingo. Er weiss, dieser Begriff hat satirisches Potential. “Halbopposition” ist ein absurdes Wort, Stoff für einen Lacher. Es ist Mittwoch, der 14. Dezember, Bundesratswahl, und für Willi Näf, von Beruf Komiker und freier Texter, der lustigste Tag im Jahr. Er hat den ganzen Morgen lang ferngesehen und anschliessend verschiedene Newsportale nach ersten Reaktionen und Analysen durchforstet. Jetzt, am späten Nachmittag, öffnet er ein neues Fenster auf seinem iMac und loggt sich in die Datenbank der Sendung Giacobbo/Müller ein. Noch einmal überfliegt er den Artikel, in dem geschrieben steht, Nationalrat Hans Fehr fordere nach der Niederlage der SVP den Gang in die “Halbopposition”. Wie nun den Widerspruch im Wort charmant entlarven? Seine Finger ruhen auf der Tastatur, sein Blick gleitet aus dem Dachstockfenster über die dunklen Dächer von Bubendorf und dann ins Leere. Um 17.13 Uhr tippt Willi Näf den Eintrag Nummer 66’679 in die Datenbank: “In der Halbopposition bleibt die SVP weiterhin gegen alles, einfach nur halb.”
Donnerstag, 7 Uhr morgens, Domenico Blass startet sein Mac Book, liest die Pointe 66’679 und lacht. Er ist der Headwriter von Giacobbo/Müller, der Hauptautor, nennt sich aber bescheiden “Buchhalter”. Zwar steht Blass im Schatten des Komikerduos, ist aber nicht minder wichtig. Vor vier Jahren entwarf er die ausgeklügelte Datenbank. Hier speisen bis zu 40 Autoren übers Internet ihre Scherze ein – unter ihnen auch Willi Näf. Es sind Werbetexter, Architekten, Lehrer, Banker, Sozialarbeiter, Studenten, zwischen 24 und 58 Jahre alt, männlich. Nur gerade eine Frau ist darunter. Blass erklärt: “Ich würde nicht behaupten, Frauen seien weniger lustig, aber häufig wollen sie niemandem wehtun.” Zudem seien viele zu wenig selbstbewusst. “Wer einen Witz macht, riskiert, dass niemand lacht. Das muss man aushalten können.”
Drei Stunden später, 10 Uhr, Domenico Blass trifft sich mit Viktor Giacobbo und Mike Müller in einem Sitzungszimmer des Schweizer Fernsehens. Zu ihnen gesellen sich drei externe Satiriker, zwei Produzenten und eine Redaktorin. Alle neun haben in den vergangenen Tagen mit der Satirebrille Zeitungen auf komisches Material hin abgesucht und aufmerksam ferngesehen. Nach gut einer Stunde legen Giacobbo und Müller fest, über welche Themen sie sich in ihrer Sendung am Sonntagabend lustig machen wollen: Christoph Blocher und die “Basler Zeitung”, die Umnutzung des Berner Bärengrabens, das Humorfestival in Arosa, die Eurovisions-Abfuhr für Lys Assia, die Gottesteilchensuche des Cern und selbstverständlich die Bundesratswahlen.
Nach dem Mittagessen schickt Domenico Blass die Themenliste per E-Mail an Willi Näf und die 39 anderen freien Autoren. Meist schaffen es nur gerade ein Dutzend Schreiber mit einer oder zwei Pointen in die Sendung. Auch Giacobbo, Müller und Blass tragen fleissig Witze in die Datenbank ein. Willi Näf ahnte bereits, dass die Bundesratswahl auf der Liste stehen würde. Deshalb schrieb er seine Pointen schon, bevor Blass die Themenliste verschickte. Er wollte der Schnellste sein. Häufig haben mehrere Autoren die gleiche Idee, aber bezahlt bekommt sie nur derjenige, der zuerst war.
Samstag, 12.15 Uhr, ein Tag vor der Sendung, 736 Pointen sind in den vergangenen drei Tagen in die Datenbank eingegangen. Giacobbo, Müller und Blass drucken an drei unterschiedlichen Orten, aber exakt zur gleichen Zeit, die Liste aus. Darauf stehen Pointen, die einen bis drei Sätze lang sind, aber auch Verweise auf lustige Fotos oder kurze Filmsequenzen. Jeder liest sie für sich durch und markiert die besten Einträge, das ist etwa jeder zehnte. Vier Stunden später treffen sie sich und verhandeln, welche ihrer Favoriten in die Sendung sollen. “Wir diskutieren manchmal heftig darüber, was lustig ist und was nicht. Das ist nicht immer lustig”, sagt Blass. Pointe Nummer 66’679 von Willi Näf kommt in die engere Auswahl und kriegt den Status “gutgeheissen”.
Sonntag, 13 Uhr, knapp neun Stunden vor Sendebeginn. Giacobbo, Müller und Blass verabreden sich normalerweise im Zürcher “Kaufleuten”, heute aber in Arosa, denn ausnahmsweise wird aus dem Zelt des Humorfestivals gesendet. Die drei stellen die Pointen in einen dramaturgischen Ablauf, spinnen sie weiter und schaukeln sich gegenseitig mit Witzen hoch. Die Pointe Nummer 66’679 bauen sie zu einem kurzen Dialog aus. Anschliessend schreiben sie einen Spickzettel für die Sendung, auf dem sie für jede Pointe ein Stichwort notieren. Das Thema “Cern” fällt aus Zeitgründen aus dem Drehbuch, andere Pointen kommen neu dazu, weil die freien Autoren die Datenbank bis zum letzten Moment füttern. Blass sagt: “Die Sendung lebt davon, dass wir aktuell sind und auch auf die Sonntagspresse reagieren. Einmal schickte mir ein Autor fünf Minuten vor Beginn eine SMS. Es war eine Superpointe, die wir sofort einbauten.”
Sonntag, 16 Uhr, Hauptprobe, Giacobbo und Müller sprechen alle Pointen trocken durch, streichen nochmals einige raus, üben technische Einspieler und Übergänge.
Sonntag, 22.03 Uhr, die Sendung läuft seit einer Viertelstunde, 619’300 Menschen schauen SF 1, und 1000 Zuschauer sitzen im Zelt in Arosa. Viktor Giacobbo senkt kurz den Blick, liest “Halbopposition” auf seinem Spickzettel, schaut ins Publikum, dann zu Mike Müller, fuchtelt mit der linken Hand und sagt: “Ueli Maurer ist jetzt in der sogenannten Halbopposition.”
Müller: “Was heisst das?”
Giacobbo: “Er ist bei allem halb dagegen.”
Müller: “Und arbeitet er jetzt nur noch halbtags?”
Giacobbo: “Ja, am Morgen. Am Nachmittag ist er in der Opposition und demonstriert vor dem Bundeshaus.”
Der Saal lacht. Domenico Blass sitzt mitten im Publikum, auf den Knien eine Liste mit allen Pointen. Er setzt ein Häkchen hinter die Nummer 66’679.
Am nächsten Morgen, 9 Uhr, Domenico Blass loggt sich in die Datenbank ein und ändert den Status der Pointe 66’679 von “gutgeheissen” auf “bezahlt”. Willi Näf werden 70 Franken auf sein Bankkonto überwiesen.

BARBARA ACHERMANN

5. März 2012

Ganzer Artikel als PDF: „NZZ Folio“ (2012)