Der Herr der Witze

Die ganze Schweiz lacht über seine Gags, doch niemand weiss, wer er ist. Domenico Blass, Pointenschreiber der Satiresendung „Giacobbo/Müller“, ist der Star hinter den Kulissen – und tritt nur auf, um mit den Ohren zu wackeln.

Markus Schneider

Domenico Blass ist der Mann hinter dem Vorhang. Die grosse Bühne überlässt er den beiden Stars. Wie diese heissen, weiss die ganze Schweiz: Viktor Giacobbo und Mike Müller. Mehr als 400’000 Zuschauer sitzen Sonntag für Sonntag vor dem Bildschirm, lachen und staunen: Was alles ist diesen beiden im Lauf der Woche wieder in den Sinn gekommen!
Doch kaum jemand ahnt, dass nicht jeder Witz, für den es in der Sendung „Giacobbo/Müller“ Applaus gibt, von Giacobbo und Müller stammt. Die beiden schreiben ihre Sketches zusammen mit Domenico Blass, 46, und greifen für die aktuellen Pointen auf einen Pool von Ideenlieferanten zurück, den Blass betreut. Mike Müller sagt offen heraus: „Unsere Sendung könnte auch Giacobbo/Müller/Blass heissen. Für das Publikum ist Blass zwar nicht sichtbar, aber er ist der dritte Mann. Er weiss alles, hilft immer, wird nie müde.“
 Viktor Giacobbo, 60, hat ihm sogar einen offiziellen Titel verliehen: „Headwriter“. „Das tönt gut“, lacht Blass, der freiberuflich als Autor für Fernsehen, Film und Bühne arbeitet. Klingt ein bisschen nach Chef-Schreiber. Wobei er natürlich kein Wichtigtuer sein will. Also stapelt er demonstrativ tief. Er leiste bloss seinen Dienst. „Bei Giacobbo/Müller steht drauf, was drinsteckt: Giacobbo/Müller. Sie entscheiden, was kommt. Sie haben das Gespür für das, was lustig ist. Sie stehen hin.“

Glücksfall «Ernstfall in Havanna»

Angefangen hat die Zusammenarbeit vor zwei Jahrzehnten, als Domenico Blass ein gewöhnlicher Journalist war. Für das Zürcher Stadtmagazin „Bonus 24“ schrieb er einen Artikel über Kabarettisten. Er bat Giacobbo um ein Zitat. Der kleine Blass war stolz, dass der grosse Giacobbo mitmachte. Danach trafen sie sich an einer Party und hatten es gleich lustig. Blass machte einen Abstecher als Werbetexter, verfasste seine ersten Drehbücher für Kurzfilme. Bis eines Tages das entscheidende Telefon kam. Viktor Giacobbo fragte: „Willst du beim Drehbuch für meinen neuen Film mitschreiben?“
Für Domenico Blass war es „der absolute Glücksfall“. Denn es ging nicht um irgendeinen Fernsehfilm. Es ging um das grosse Kino. „Ernstfall in Havanna“ hiess der Streifen, der vor zehn Jahren erschienen ist und mit über 300’000 Zuschauern zu den zehn erfolgreichsten Schweizer Filmen zählt. Wenn Domenico Blass den Film wieder einmal anschaut, findet er ihn immer noch zum Lachen. „Das ist das Wichtigste.“ Das Zweitwichtigste: Er lernte bei den Dreharbeiten den Schauspieler enger kennen, der neben Giacobbo die zweite Hauptrolle spielte: Mike Müller, 48.
Was daraus geworden ist, fasst Mike Müller kurz und bündig zusammen: „Domenico ist ein dicker Freund.“ Und das, obschon Blass ziemlich schlank ist, während Mike Sonntag für Sonntag seine Statur zur Schau stellt. 
Der ranke Viktor hingegen macht sich Sonntag für Sonntag über sein Alter lustig. Er hätte längst aufgehört mit der Sendung, sagt er im Scherz – wann da nicht sein Headwriter wäre: „Wegen Domenico habe ich mich nicht frühpensionieren können. Seit wir zusammen ‚Ernstfall in Havanna‘ geschrieben haben, treibt er mich brutal vor sich her.“
Von Februar bis Mai, von Oktober bis Dezember läuft die Sendung, die im Zürcher Club Kaufleuten aufgezeichnet wird. Dann sind Blass, Müller und Giacobbo „zusammen unterwegs“. Sie mailen, simsen, telefonieren zu allen Tages- und Nachtzeiten. Sechs Stunden vor dem Start am Sonntagabend hocken sie zu dritt im „Kaufleuten“ in einer kleinen Kammer zum letzten Schliff. Domenico breitet seine Arme in die Breite und in die Länge. „Zwei auf zwei Meter, so klein ist die Kammer. Hier sitzt Viktor, dort Mike, hier ich. Da muss man sich gut verstehen, sonst geht man einander auf den Sack.“
Blass bezeichnet sich gern als Gruppentierchen und noch lieber als Familienmensch. Er streckt alle fünf Finger seiner linken Hand in die Luft, damit man seinen Ehering sieht. Er hat drei Kinder zwischen zehn und vierzehn Jahren; die finden ihn „nicht immer lustig, aber immer wieder“, spasst er. Blass haust in der Stadt Zürich an bester Lage: Sein luftiges Büro, das er mit Künstlern teilt, befindet sich in einer ehemaligen Schreinerei. Dazu gehört eine Terrasse am rauschenden Bach. Seine Wohnung liegt im Gebäude direkt gegenüber mit einer Kinderkrippe im Parterre. Hier lebt er mit seiner Familie. Zudem hat Vater Blass rund um Giacobbo/Müller „eine Art Ersatzfamilie“, wie er scherzhaft sagt. Dazu gehören zwei Produzenten, zwei Redaktorinnen, eine Produktionsassistentin und dreissig Pointenlieferanten. Diese Mannschaft – Frauen sind in der Minderzahl – steht unter Hochdruck wie im Fussball. Dort werden die Spieler nach Anzahl Punkten und Titeln bezahlt. Bei Giacobbo/Müller werden die Schreiber nach Anzahl Pointen belohnt, die es in die Sendung schaffen. 70 Franken pro Pointe.

Entdecker neuer Talente

Ist das ein Witz? – Blass lacht, für einmal nicht schallend, sondern selbstbewusst. „Wenn du fit bist, fallen dir in einer Stunde zwanzig Scherze ein. Also für mich würde sich das lohnen.“ Doch er wird pauschal honoriert wie Viktor Giacobbo und Mike Müller auch. Die drei haben, als wären sie biedere Rechtskonsulenten oder brave PR-Berater, ein Mandat vom Schweizer Fernsehen.
Die dreissig zusätzlichen Pointenlieferanten stammen aus den verschiedensten Berufen. Im richtigen Leben sind sie Archi tekten oder Beamte, Lehrer oder Banker. Oder Werbetexter. Dazu kommen einige Neulinge aus allen Schichten, die vorher nie professionell Texte verfasst haben. „Diese Talente haben wir entdeckt.“ Stolz erzählt Blass vom Handy-Verkäufer Avsar Yildiz an der Langstrasse im Zürcher Rotlichtbezirk. „Ein ganz cooler Siech.“ Hat sich einfach mal gemeldet, lieferte Pointe um Pointe zu 70 Franken das Stück und verdient sein Geld inzwischen als Praktikant in einer grossen Werbeagentur. Oder der ehemalige Sozialarbeiter Aron Herz aus der Ostschweiz. Der mailte eines Sonntags eine „Super-Idee“, die zu spät eintraf. Inzwischen ist er aufgestiegen zum „Inputter“. Er darf jeden Donnerstag an der grossen und einzigen Giacobbo/Müller-Sitzung im Studio Leutschenbach teilnehmen, wo die Themen vom Sonntag bestimmt werden, und arbeitet heute als Texter in einer St. Galler Agentur.
Wenn er nicht für Viktor Giacobbo und Mike Müller Witze und Sketches erfindet, schreibt Domenico Blass an Drehbüchern. Verfasste Beiträge fürs Schweizer Fernsehen, darunter für die Magazine „10 vor 10“ und „neXt“. Er schrieb die Sitcom „Schöni Uussichte“ und hat soeben das Erfolgsmusical „Bibi Balù“ von Hans Gmür und Karl Suter aktualisiert.
Viele Zuschauer wissen nicht, dass Domenico Blass hinter den erfolgreichen Schweizer Fernseh- und Theaterprojekten steckt. Ihm ist das egal. Er will hinter dem Vorhang bleiben. Zweimal hat er sich bei „Giacobbo/Müller“ auf die grosse Bühne gewagt und zwei „Kunststücke“ vorgeführt. Das erste Mal hat er das Augenlid hochgeklappt. „Das kann nicht jeder.“ Das zweite Mal hat er mit seinen Ohren gewackelt. Das können andere besser. „Ohrenwackeln ist sicher nicht meine Kernkompetenz.“

27. September 2012

Ganzer Artikel als PDF: „Schweizer Familie“ (2012)